Gefühlspornografie. Gibt es das?
Überdeutlicher Sex in den Medien ist Pornographie. Aber sind überdeutliche Gefühle in den Medien deswegen Gefühlspornographie?
Fangen wir ganz einfach an: Was ist Pornographie?
Pornographie ist die eindeutige und dadurch für manche Betrachter obszöne Darstellung des menschlichen Geschlechtsaktes in Wort und Bild, lautet eine simple Antwort.
Auch wenn sie uns im Medienalltag zunehmend begegnet, ist sie trotzdem stark umstritten: Die Pornographie wird heutzutage zwar weniger wegen ihrer Inhalte selbst angegriffen und verurteilt, sondern weil speziell die Darstellung des weiblichen Verhaltens als frauenfeindlich wahrgenommen wird: Die Frau werde dabei auf ein reines Sexualobjekt reduziert, das sich Männern schamlos anbietet und deren Sexualität im wesentlichen reaktiv auf die angenommenen Bedürfnisse des Mannes detailliert vorgeführt wird. Allerdings, so wird argumentiert, schädige die Pornographie nicht nur die Frau, sondern auch den männlichen Betrachter in der Weise, als dass dieser auch im realen Leben zwangsläufig zum Voyeur wird. Durch die pornographische Darstellung der Frauen kann er sie nicht mehr anders als als bloße Objekte der stimulierenden Beobachtung wahrnehmen. Hierdurch kann unter Umständen und bei entsprechender Veranlagung, müsste man hinzufügen, die Schranke zwischen eingebildeter und vollzogener sexueller Gewalt niedergerissen werden. Diese hauptsächlich letztere, jedoch nicht nur von Feministinnen vorgebrachte Kritik ist unzweifelhaft richtig und mehrfach wissenschaftlich belegt. Sie muss daher an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden.
Neben der eindeutigen Darstellung der Sexualität hat sich in den letzten Jahren besonders im Medium Fernsehen eine neue Art von Obszönität etabliert, die jedoch im Gegensatz zu ersterer, nur wenig diskutiert wird und deren schädigender Einfluss auf die Betrachter beiderlei Geschlechtes bisher übersehen worden ist. Dieses Phänomen soll im Folgenden als Gefühlspornographie bezeichnet werden. Hier muss jedoch zunächst differenziert werden.
Große Gefühle
Die Darstellung großer Gefühle ist seit Beginn der abendländischen Kultur ein wesentlicher Aspekt insbesondere der dramatischen Literatur. Der griechische Philosoph und Kunsttheoretiker Aristoteles ging in seinem Buch über die Poetik des Dramas von einer reinigenden Funktion der Dramatik aus. Ein Theaterstück stellt schicksalhafte menschlicher Lebensaspekte dar. Hierdurch sollen im Betrachter Furcht und Schrecken ausgelöst werden. Im stellvertretenden Durchleben soll der Zuschauer in einem komplizierten psychologischen Akt von den so dargestellten extremen Emotionen befreit werden. Dieses geschieht jedoch nicht nur um zu unterhalten, sondern auch um das Leben als Schicksal mit allen Höhen und Tiefen besser annehmen zu können. Wie bei jeder Medizin kommt es auch dabei auf die richtige Dosis an: Ein zu wenig kann jene Reinigung oder Heilung nicht bewirken, ein Zuviel würde in irgendeiner Form schädigend sein.
Nimmt man sich einmal die Zeit und schaltet einen Nachmittag oder einen Abend lang durch das Programmangebot unseres Leitmediums Fernsehen, so scheint dieses von einem Sendeformat dominiert zu werden, dass man gefühlsmasturbatorisch oder -pornographisch nennen könnte.
In zum Teil absurden Handlungen, Vereinbarungen, Wetten o.ä. dieser so genannten Scripted-Reality-Sendungen, also erzählten Geschichten, die sich den Anschein geben, sie seien dokumentarisch und bildeten demnach das wirkliche Leben einzelner Menschen ab, werden Menschen zu Paaren verkuppelt, Häuser, Gärten o.ä. Besitztümer materiell schlecht gestellter Menschen auf fremde Kosten renoviert, verloren geglaubte Verwandte wiedergefunden und ihren Lieben zugeführt, familiäre Probleme (auf zum Teil brachiale Weise) gelöst und andere emotionale Höhepunkte vorgeführt.
Gefühlspornographie
Allen diesen Sendungen gemeinsam ist eine medial-inszenierte Tränenflut über die empfundene Freude und Dankbarkeit für die Wirren des Schicksals oder den Scham vergangener Verfehlungen, die nun endgültig verziehen wurden. Und die Zuschauer?
Wer würde sich nicht mit der Mutter freuen, die ihre verlorene Tochter in die Arme schließt, wer nicht stolz sein auf den Sohn, der nach Jahren des Herumlungerns endlich eine Zielrichtung im Leben verfolgt. Wer wäre nicht gemeinsam mit der so genannten Unterschicht-Familie dem Fernsehsender dankbar für die neuen Möbel und Tapeten? Die Rechnung der Programmmacher dürften in den meisten Fällen jedenfalls aufgehen: Der Zuschauer weint mit den Protagonisten des Programms und fühlt sich in manchen Fällen von Mitleid und Mitgefühl und erlösender Freude über das Happy End übermannt.
Natürlich werden große Gefühle auch in anderen fiktiven oder dokumentarischen Bildschirmformaten durchaus zum Thema gemacht, doch der für diese Überlegungen wesentliche Unterschied besteht darin, dass diese nicht im Mittelpunkt eines voyeuristischen und wie wir sehen werden masturbatorischen Interesses stehen, sondern nur einen Teil einer weiter reichenden Berichterstattung bilden.
Die übermäßige Evokation großer Gefühle der oben erwähnten Sendungen durch die Darstellung von menschlichem Leid und Erlösung, hat jedoch keinerlei dokumentarische Funktion, sondern das Übermaß des Gefühls wird als solches inszeniert und präsentiert, was den Betrachter über kurz oder lang abstumpfen lässt.
Die alltägliche Konfrontation wird zu einer emotionalen Masturbation, indem ein starkes Gefühl kurz und heftig zu einem Höhepunkt führt, der hierin den kurzen und lieblosen Geschlechtsakten in pornographischen Darstellungen ähnelt. Ein solcher selbst bzw. medial beigebrachter Orgasmus, der sich zumeist in einem befreienden Tränenausbruch äußert, darf jedoch keinesfalls mit einem echtem Mitgefühl oder einer nach diesem Erleben bestehenden Solidarität mit den Opfern des erlittenen Leides, an dem man gerade teilgenommen hat, verwechselt werden.
So wie die Person, die ihren Körper und insbesondere die Geschlechtsorgane und deren Verwendung in der Pornographie zur Verfügung stellt, unerheblich ist und bleibt, ist das Leid des dargestellten Menschen beliebig und auswechselbar. Hierin ähnelt die Gefühlspornographie den ebenso häufig gesendeten Talk-Shows, in denen das beständig wiederholte und inhaltsleere Gerede irgendwelcher Prominenten ebenfalls beliebig ist und rasch vergessen wird. Hierbei befriedigt den Betrachter im wesentlichen das Gefühl virtuell und wenn auch passiv an einem Gespräch teilgenommen zu haben, bzw. die Stille des leeren Raumes vertrieben zu haben.
Während Aristoteles in seiner bereits erwähnten Poetik zwar davon ausgeht, dass die medial bedingte Reinigung von Furcht und Schrecken zwar ebenfalls nicht bleibend ist, sondern von Zeit zu Zeit in einem rituellen Gemeinschaftsakt, nämlich der Theaterinszenierung, wiederholt werden muss um seinen heilende Wirkung zu erneuern. Die Fernsehzuschauer allerdings werden von einer Woge des Leidens in täglichen und zu kurzen Abständen unkontrolliert hinweggetragen und mit dieser Erfahrung allein gelassen. Wie in der Pornographie, ist die einsame emotionale Masturbation auf Dauer unbefriedigend und muss in stetigen, kürzer werdenden Abständen wiederholt werden, wodurch sie bei hierfür anfälligen Betrachtern rasch zur Sucht werden kann: Irgendwann brauchen wir unsere tägliche Portion Tränen um uns selbst als mitleidsvolle Menschen spüren zu können.
Der langfristige gesellschaftliche Effekt einer solchen masturbatorischen Überschwemmung liegt dabei auf der Hand: Liebe und Mitleid sind intentionale Gefühle, die sich auf einen oder mehrere ausgewählte Menschen aus dem erfahrenen gesellschaftlichen Nahraum erstrecken. Sie sind das Ergebnis einer andauernden liebevollen und selbstlosen Hingabe an den Anderen bzw. im Falle des Mitleides an der ehrlich interessierten Teilnahme am Leben des Anderen mit dem Ziel diesem bei Bedarf helfend zur Seite zu stehen. Beide Gefühle sind dauerhaft, doch sie benötigen Zeit, um sich stabilisieren zu können, und Zeit, um sich in das Leben desjenigen der sie erfährt hinein zu entfalten.
Wie die körperliche Liebe stets das Moment der Hingabe an den einen Anderen als Produkt einer liebevollen Hinwendung zum Anderen enthält, ist das Mitleid und das hieraus resultierende moralische Handeln eine nur dem reifen Menschen eigentümliche Existenzweise, um die man sich bemühen muss und für die im Verlauf der Entwicklung auch Rückschläge und eventuelle Verletzungen in Kauf genommen werden müssen. Erst das mit und gegen den uns nun einmal eigenen Egoismus errungene Ergebnis dieser Bemühungen macht das menschliche Leben lebenswert und erfüllt.
Die Pornographie, ob körperlicher oder emotionaler Art versucht dem vereinzelten und von sich und seinen echten Bedürfnissen entfremdeten Menschen eine Abkürzung anzubieten, die jedoch in einer Sackgasse münden muss.
Der Konsum von Pornographie ist also ebenfalls eine Form des Konsumismus, der den Zugang des einzelnen Menschen zu seiner geistigen Personenheftigkeit in sofern verstellt, als dass er kein Bei-Sein mit einem anderen Menschen im Sinne einer funktionierenden Partnerschaft eingehen kann, oder eine solche zumindest erschwert wird. Für sexuell und partnerschaftlich wenig oder gar nicht gereifte Jugendliche ist dieser Umstand besonders fatal, als dass sie irgendwann Frauen und Mädchen in ihrer Umgebung ausschließlich unter sexuellen bzw. pornographischen Aspekten wahrnehmen können.
Hinzu kommt der Umstand, dass sich unter den Jugendlichen in Stadt und Land eine Art prekariatsorientierter männlicher Subkultur herauszubilden beginnt, die sich einerseits durch die Ablehnung einer erstrebenswerten bürgerlichen Existenz vor allem auch in der Ablehnung von Verantwortung und der Herabsetzung der Frau auszeichnet. Besonders erschreckend ist hierbei jedoch weniger die Tatsache, dass junge Männer Frauen herabwürdigen oder sie je nach kultureller Herkunft zu einem zu beschützenden Objekt degradieren, denen kein eigenverantwortliches Handeln zugetraut wird und die deswegen beständig unter männlicher Aufsicht stehen müssen. Schlimmer auf Dauer ist die Tendenz der Mädchen sich diesem Verhalten mehr oder weniger freiwillig unterzuordnen. Von Kindesbeinen an durch die beständig auf sie einprasselnden Werbebotschaften daran gewöhnt, sich selbst als “Prinzessinnen“ zu begreifen, deren einziger zu realisierender Wert im Leben in einem Bewahren eines perfekten äußeren Scheins besteht, der mit größtmöglicher Passivität des Handelns einhergeht, können die anderen „Prinzessinnen“ als nichts anderes als eine Bedrohung im Kampf um die aktiven „Prinzen“ verstanden werden. Getreu dem oben formulierten Gesetz des Konsumismus, dass nur Besitz und äußerer Schein den Wert einer Person ausmachen, werden Freundschaften zwischen Mädchen und jungen Frauen zu reinen Zweckbündnissen im Kampf um den Versorger, der einem den Zugang zu den begehrten Gütern weiterhin ermöglicht und in dieser Hinsicht das Elternhaus bzw. die Väter in ihrer Rolle ablöst.
Ein durch den Konsum von Pornographie vorgebildetes Verständnis von Intimität und Zweisamkeit steht zwar nicht unbedingt im Gegensatz zu Romantik und erfüllender Partnerschaft, doch wird die Sexualität von den Mädchen zum Teil aggressiv und zielgerichtet eingesetzt, um im gnadenlosen Konkurrenzkampf der perfektesten Körper einen vorderen Platz einzunehmen. Die in der Pornographie vorgezeichneten Rollenbilder werden also zu einem akzeptablen Rollenverhalten, wodurch eigene Interessen und das Interesse der um den weiblichen Körper konkurrierenden Jungen gleichermassen befriedigt werden können.
In einem zynischen Sinne könnte man demnach sagen, dass die massive und konsumistische Verbreitung der Pornographie den seit vierzig Jahren toben Geschlechterkampf endgültig beendet hat, in dem sie die Geschlechter als willenlose Konsumenten des jeweils anderen Körper aneinander bindet, doch nicht um den Preis der Liebe, sondern den der absoluten Trostlosigkeit.