Die Leiden des Doktor Faust
Schuld und Noogene Depression
Auch wenn es vielleicht schon lange zurück liegt, erinnern wir uns einmal kurz an unsere Schulzeit. Johann Wolfgang Goethe hat bekanntlich ein Theaterstück namens „Faust“ geschrieben, das als eines der wichtigsten deutschsprachigen Dramen gilt. Ob dem so ist, sei einmal dahin gestellt, aber worum geht es im „Faust?
Die erste Hälfte des Stückes wird Gelehrtentragödie genannt. Doktor Heinrich Faust ist ein gelehrter Mann, heute würden wir sagen, ein extrem verkopfter Intellektueller. Faust leidet so sehr an sich und seinem Leben, dass er aus lauter Verzweiflung beschließt Suizid zu begehen. Hiervon erfährt der Teufel, der hier Mephisto heißt, und bringt Faust dazu einen Vertrag mit ihm zu unterschreiben, der ihn zwar nach seinem Tod zur Hölle verdammt, während seines Lebens jedoch nur alles erdenklich Glück verspricht. So, kurz zusammengefasst, die Handlung.
Als Heilpraktiker Psychotherapie wissen wir natürlich, dass schwere Depressionen von den Symptomen der Suizidgedanken und der Wahnvorstellungen begleitet werden können. Handelt es sich bei dem bekanntesten deutschen Drama in Wirklichkeit um die akkurate Beschreibung einer klinischen Depression? Und welche Symptome zeigt unsere Patient Faust sonst noch? Und welche Formen der Depression gibt es noch? Schauen wir uns zunächst die Handlung dazu etwas detaillierter an und stellen wir Schritt für Schritt unsere Diagnose.
Der verstimmte Gelehrte
Doktor Faust begegnet uns zu Beginn des ersten Aktes zunächst allein und, wie Goethe die Szenerie beschreibt, „in einem hochgewölbten, engen gotischen Zimmer“. Es ist also alles andere als gemütlich in Faustens Heim; wir können es uns feucht und recht kühl vorstellen, zumal der Frühling gerade erst beginnt, wie wir später erfahren werden.
Voller Unruhe sitzt oder steht Faust an seinem Schreibpult und klärt die Zuschauer oder Leser in einem umfangreichen Monolog zunächst über seine unglücklichen Lebensumstände auf: Er habe alles nur erdenkliche studiert und trotzdem sei er nicht weiter gekommen. Er kenne noch immer nicht den Sinn der Welt und den Sinn seines Lebens. Natürlich ist seine Einschätzung vollkommen subjektiv und wir bemerken hier bereits eine gewisse Einengung seines Denkens, die sich im Laufe seines Überlegungen immer weiter verstärkt. Faust kreist gedanklich beständig um sein Unglück und ist nicht fähig sich von den belastenden Themen zu lösen.
Zusätzlich wirkt er zwar zunächst traurig und zurückhaltend, doch langsam steigert er sich in eine Art Wut hinein und wirkt schließlich sogar eher manisch als depressiv. Er möchte wissen, „was die Welt im innersten zusammenhält“. In den Worten des Begründers der Logotherapie und Existenzanalyse könnte man sagen, dass für Faust der Sinn seines Lebens noch immer verborgen ist.
Die Aggressionen, die Faust gegenüber der Welt und seiner ungebildeten Bewohner empfindet, richten sich immer mehr gegen die eigene Person. Solche, auch „Autoaggressionen“ genannte Gefühle sprechen dafür, dass sich Faust bereits in der ersten Phase der Suizidalität befindet, wie sie vom dem Psychiater Erwin Ringl beschrieben werden. Wir bemerken also am Ende des Monologes zu Beginn des Dramas, ernste Symptome einer depressiven Verstimmung. Die Verzweiflung über den Mangel an Sinn beginnt sich bei Faust zudem in Form von Gefühlen der Brustenge körperlich zu manifestieren, was als ein weiteres, somatisches Resultat seines autoaggressiven Verhaltens verstanden werden kann. Faust beschreibt das Gefühl so:
Und fragst du noch, warum dein Herz
Sich bang on deinem Busen klemmt?
Warum ein unerklärter Schmerz
Dir alle Lebensregung hemmt? (Vers 410-413)
Die Fokussierung auf sich seine negativen Gefühle verstärkt die Zweifel an seinem einzigen Lebenszweck, der wissenschaftlichen Forschung. Diese bietet keine Ziel, sondern immer nur vorläufige Ergebnisse. Doch aufgrund seines Alters glaubt er keinerlei Handlungsalternativen zu haben. Offenbar zeigen sich hier Symptome dafür, dass sich Faust in der“ Phase der Einengung“ nach Ringl befindet. Um dieser Einengung zu entfliehen, beginnt er Fluchtgedanken zu hegen und drückt diese metaphorisch aus: Reisen zu fernen, mystisch anmutende Orten werden als Auswege phantasiert, wenn Goethe Faust deklamieren läßt:
Oh sähst du, voller Mondenschein,
Zum letzten Mal auf diese Pein […]
Ach! könnt‘ ich doch auf Bergeshöhn
In deinem lieben Lichte gehen […]
Von allem Wissensqualm entladen,
In deinem Tau gesund mich baden. (Vers 386-397)
Aus dieser gedanklichen Einengung heraus unternimmt Faust noch einen letzten Versuch, seinem sinnlosen Leben neue Impulse zu verleihen. Er wendet sich in einer schwarzmagischen Beschwörung an den Erdgeist, eine Personifizierung der Natur. Diese Begegnung übersteigt jedoch seine intellektuellen Fähigkeiten. Er muss sich von dem Anblick des Erdgeistes abwenden und dieser verschwindet wieder. Faustens Verzweiflung wird nun übermächtig. Sein Habitus, sofern dies dem Text zu entnehmen ist, scheint sich nun vollständig von jener erwähnten manischen Aggressivität hin zu einer brütenden Passivität zu wandeln.
In diesem Moment wird er von seinem Schüler Wagner, der in seinem Haus lebt aus diesem Anfall unproduktiver Grübelei durch ein Klopfen an der Tür aufgeschreckt. Faust scheint beinahe erleichtert, er begrüßt ihn mit den Worten:
Du rissest mich von der Verzweiflung los
Die mir die Sinne schon zerstören wollte (Vers 610-611)
Soziale Isolation und Suizid
Der Schüler Wagner, der von der Gelehrsamkeit seines Lehrers Faust profitieren möchte und von diesem oft als „trockener Schleicher“ diffamiert wird, sorgt sich im anschließenden Gespräch jedoch vor allem um den Fortgang der eigenen Ausbildung und weniger um die Gesundheit seines Lehrers. Faust wird zwar aus seinen suizidalen Gedanken gerissen, aber er erfährt von Wagner nicht die teilnehmende menschliche Zuwendung, die er in diesem Moment braucht. Oder ist es umgekehrt so, dass Faust genau diese Zuwendung schon nicht mehr sehen und annehmen kann, weil er zu sehr mit sich beschäftigt ist?
Nach einem kurzen sachlich-ablenkenden Gespräch zwischen Lehrer und wendet sich Faust jedenfalls, nun wieder allein gelassen, einer neuen Stufe der Verherrlichung des Suizids zu. Er hat nun endgültig die dritte Phase der Suizidalität erreicht, die Phase der Suizidphantasie.
Doch warum heftet sich mein Blick auf jene Stelle?
Ist jenes Fläschchen dort den Augen ein Magnet?
Warum wird mir auf einmal lieblich helle?
Als wenn im nächt’gen Wald uns Mondenglanz umweht.
Ich grüße dich, du einzige Phiole!
Die ich mit Andacht nun herunterhole,
In dir verehr’ ich Menschenwitz und Kunst
Du Inbegriff der holden Schlummersäfte,
Du Auszug aller tödlich feinen Kräfte,
Erweise deinem Meister deine Gunst!
Ich sehe dich, es wird der Schmerz gelindert,
Ich fasse dich, das Streben wird gemindert,
Des Geistes Fluthstrom ebbet nach und nach.
Ins hohe Meer werd’ ich hinausgewiesen,
Die Spiegelfluth erglänzt zu meinen Füßen,
Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag. (Vers 686 – 701)
Das Gift, welches sich offensichtlich in der Phiole befindet, wird von Faust in sarkastischer Übertragung des griechischen Begriffes „pharmakon“ nun als Arznei verehrt, dessen Einnahme nun endlich und endgültig schmerzlindernd wirken soll. Der Tod wird euphemistisch und verharmlosend als „anzutretende Reise“ bezeichnet, jedoch ohne, dass Faust hier die echte Hoffnung auf ein glückliches Jenseits erwarten würde, das dem Selbstmörder nach christlichem Glauben ohnehin verwehrt bliebe.
Faust setzt die Phiole jedoch nicht impulsiv an die Lippen, was auf eine der Unsicherheit entspringende Kurzschlusshandlung hindeuten würde, sondern zelebriert ein in diesem Zusammenhang eigenartig wirkendes Ritual, das auf einen Schuldkomplex verweist.
Schuld und Schuldgefühle
Um den Zusammenhang zwischen Suizidalität und Schuld zu verstehen kann es sinnvoll sein einen kurzen Rückgriff auf die Überlegungen von Viktor Frankl zum Thema unternehmen. Nach Frankl existiert neben der körperlich und psychisch verursachten Suizidalität, zum Beispiel im Rahmen einer schweren klinischen Depression, an der Faust zu leiden scheint, eine dritte Form der Depression. Nach dem griechischen Wort „Nous“, das man mit „Geist“ übersetzen kann, nennt er diese Noogene Depression, als eine Depression die aus dem Bereich des Geistigen entsteht. Geistig meint hier jedoch nichts religiöses oder metaphysische, sondern den Bereich, in den der mensch sich frei hinein entfalten kann. Der Mensch ist, nach Viktor Frankl, ein Wesen, das in seinem Leben einen Sinn sucht und anstrebt. gelingt ihm dieses nicht, so beginnt er an seinem sinnlosen Dasein zu leiden, was eben zu Gefühlen der Depression führen oder eine solche verstärken kann. Im Falle von Faust könnte eine solche noogene Depression vorliegen. schauen wir uns seine Inszenierung des Selbstmordes etwas genauer an.
Faust greift hierzu nach einem, als „Scha[a]le“ bezeichneten, sorgfältig verpackten und also wertvollen Trinkgefäß oder Kelch. In diesen hinein gibt er in den Inhalt der Phiole, also das Gift, um dieses Gift in einer obszönen Verkehrung heimeliger und freundschaftlicher Trinksitten und natürlich der katholischen Liturgie gewissermaßen zu dekantieren und feierlich in sich aufzunehmen. Aus dieser Ritualisierung wird erneut deutlich, dass es sich bei seinem angestrebten Suizid um einen sorgfältig geplanten Bilanzsuizid handelt. Er handelt auch in seinen letzten Momenten nicht kopflos oder von unbeherrschten Gefühlen angetrieben, sondern noch immer rational: Faust gibt sich selbst Sterbehilfe:
Nun komm herab, krystallne reine Schaale!
Hervor aus deinem alten Futterale,
An die ich viele Jahre nicht gedacht.
Du glänztest bey der Väter Freudenfeste,
Erheitertest die ernsten Gäste,
Wenn einer dich dem andern zugebracht.
Der vielen Bilder künstlich reiche Pracht,
Des Trinkers Pflicht, sie reimweis zu erklären,
Auf Einen Zug die Höhlung auszuleeren,
Erinnert mich an manche Jugend-Nacht,(Vers 720 -729)
Wir erfahren nun auch endlich, was es mit der Schale oder dem Kelch auf sich hat, der ja für Faustens Suizid offenbar ein wichtige Rolle spielt.
Der Kelch entpuppt sich zunächst als profanes familiäres Erinnerungs- und Erbstück, aus welchem bereits Faustens Vater mit seinen Freunden in geselliger Runde zu trinken pflegte. Für Faust scheint er jedoch von großem ideellen Wert zu sein, weil es ihm als Heranwachsender offenbar erlaubt wurde an den väterlichen Festen und Trinkrunden teilzunehmen. Der Gegenstand verweist also nicht nur auf Faustens Jugend und seine familiären Hintergründe, sondern vor allem auf eine lebhafte und kreative Form der Geselligkeit, die Faust in seiner Jugend offenbar genossen hat, auch wenn er solchen Unterhaltungen“ seit vielen Jahren nicht gedacht“ hat.
Die Ungeselligkeit und Misanthropie Faustens scheint also kein durch frühkindliche Erziehung oder körperliche Ursachen begründeter Charakterzug dieses Menschen zu sein, sondern das Ergebnis eines sein späteres Leben bestimmenden möglicherweise traumatischen Erlebnisses als Jugendlicher oder junger Erwachsener.
Ich werde jetzt dich keinem Nachbar reichen,“.
Ich werde meinen Witz an deiner Kunst nicht zeigen,“.
Hier ist ein Saft, der eilig trunken macht.“.
Mit brauner Flut erfüllt er deine Höhle.“.
Den ich bereitet, den ich wähle,“.!
Der letzte Trunk sey nun, mit ganzer Seele,“.
Als festlich hoher Gruß, dem Morgen zugebracht!(Vers 730 – 736)
Noch einmal thematisiert Faust kurz seine schmerzliche soziale Isolation und in einem Moment vorgeschobener Hochstimmung schickt er sich an den Suizid zu vollenden, doch wird er ein weiteres Mal durch den Klang, das“ Lied\flqq, der Kirchenglocken zur Osternacht unterbrochen.
Dieß Lied verkündete der Jugend muntre Spiele,“.
Der Frühlingsfeyer freyes Glück;“.
Erinnrung hält mich nun, mit kindlichem Gefühle,“.
Vom letzten, ernsten Schritt zurück.“.
O! tönet fort, ihr süßen Himmelslieder!“.
Die Thräne quillt, die Erde hat mich wieder! (Vers 779 – 784)
In den meisten Deutungen dieser Szene wird betont, dass sich an dieser Stelle zum ersten Male eine göttliche Macht in Fausts Schicksal einmischt. Ich persönlich neige jedoch eher dazu auch diesen Moment aus einer existenzialistischen Perspektive zu betrachten und die erwähnten“ kindlichen Gefühle“ etwas genauer zu betrachten.
Faust wird im Moment des Glockenklangs von der Erinnerungen an eine glücklich verlebte Kindheit überschwemmt und es gelingt ihm sich geistig-ontologisch auf diese auszurichten. Er erlebt die glücklichen Momente wieder und erlebt sie als eine Realität, die ihn das Leben bejahen und ihn zu einem weiteren Mal sein Suizidvorhaben nicht durchführen lässt.
Vergleicht man diese Stelle mit der oben erwähnten ersten Unterbrechung durch das Klopfen seines Schülers Wagner macht uns Goethe die logotherapeutische Wirkmächtigkeit des von Frankl so bezeichneten“ Bei-Seins“ deutlich: Während Wagner Faust in seinem Handeln tatsächlich nur unterbricht und ihn rasch wieder zu seinem ursprünglichen Plan zurückkehren lässt, da das Gespräch mit seinem Schüler für Faust nicht werthaft ist,
erlebt er nun eine gelenkte Ausrichtung seiner gesamten Person auf ein erlebtes aktualisierbares Glück. In diesem Moment ist Faust ganz bei sich und die glücklichen Momente seines Lebens lassen ihn das Leben als solches bejahen. Der Impuls zum Suizid ist erneut niedergerungen, jedoch nicht durch Ablenkung, sondern durch eine neue Ausrichtung der Person auf sich selbst.
Freilich ist hierin noch keine Heilung einer Affektstörung zu sehen, sondern eher eine erweiterte und etwas nachhaltigere Form der Symptombekämpfung. Dieser neu gewonnene Lebensmut verhilft dem nach wie vor depressiven Faust zunächst seine soziale Isolation aufzugeben und sich wieder unter Menschen zu begeben.
Gemeinsam mit dem widerwilligen Wagner misch er sich unter das Volk, dessen Gesellschaft er auf dem sich der Messe anschließenden sonntäglichen Osterspaziergang sehr genießt. Auch die blasierte Arroganz seines Schülers vermag seinen Genuss hieran nicht zu stören, so dass Faust voller Erkenntnis des Wertes einer menschlichen Gesellschaft ausrufen kann:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s seyn. (Vers 940)
Schuld und Schicksal
Wie wir vermutet haben, gehen die Ursachen für Fausts Depression allerdings tiefer und sind existenzieller Natur, also nicht bloß reaktiv und das Produkt aktueller Lebensumstände, trotzdem reagiert er auf seine Rückkehr in die Welt der Menschen zunächst positiv. Er lobt den Frühling, den er metaphorisch auf sich und seine Lebenssituation bezieht:
Vom Eise befreyt sind Strom und Bäche,
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick,
Im Thale grünet Hoffnungs-Glück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück. (Vers 903 – 907)
Auf dem Spaziergang vor der Stadt bewegen sich Faust und Wagner nicht nur zwischen allerlei Menschen aus dem einfachen Volk, die sich ebenfalls der Frühlingssonne erfreuen, sondern es scheint, dass man dem stadtbekannten Gelehrten Faust sogar mit Hochachtung begegnet. Er ist in der Dorfgemeinschaft also kein unbekannter Kauz. man achtet ihn jedoch weniger für seine abstrakte, wissenschaftliche Gelehrsamkeit, sondern für die Wohltätigkeit, die er gemeinsam mit seinem Vater dem Dorf geleistet hat. So wird Faust von einem“ alten Bauern“ auf das vergangene Tun seines verstorbenen Vaters angesprochen.
Gar mancher steht lebendig hier,
Den euer Vater noch zuletzt
Der heißen Fieberwuth entriß,
Als er der Seuche Ziel gesetzt.
Auch damals ihr, ein junger Mann,
Ihr gingt in jedes Krankenhaus,
Gar manche Leiche trug man fort,
Ihr aber kamt gesund heraus,
Bestandet manche harte Proben;
Dem Helfer half der Helfer droben. (Vers 997 – 1007)
Durch eine solche Anrede erweitert sich dem Leser nun schlagartig der Blick auf Faustens Charakter. Tatsächlich handelte es sich bei dem misanthropischen Intellektuellen um einen, zumindest in der Vergangenheit, mutigen Arzt oder Krankenpfleger, der sich unter Inkaufnahme von gesundheitlichen Gefahren für das eigene Leib und Leben selbstlos den Krankheiten seiner Mitmenschen gewidmet hat.
Angeleitet wurde er hierbei von seinem Vater, bei dem es sich offenbar ebenfalls um einen talentierten Arzt gehandelt hat.
Auch Wagner, dem diese Lebensumstände Faustens offenbar unbekannt waren, zeigt sich von der Bewunderung, die seinem Mentor entgegengebracht werden, beeindruckt, auch wenn er hauptsächlich daran zu denken scheint, welche Vorteile für sich selbst er aus dieser hohen sozialen Reputation ziehen kann.
Welch ein Gefühl mußt du, O großer Mann,
Bei der Verehrung dieser Menge haben!
O glücklich, wer von seinen Gaben
Solch einen Vorteil ziehen kann! (Vers 1011 – 1014)
Durch den physischen Kontakt mit der Umgebung, die positive Stimmung, die ihm entgegen gebracht wird und möglicherweise auch durch das typische“ Morgenhoch“ eine Depressiven nach durchwachter Nacht, ist Faust nun endlich bereit sich im anschließenden Gespräch mit eben jener Vergangenheit und der eigentlichen Ursache für seine Depression auseinander zu setzen.
Hier saß ich oft gedankenvoll allein
Und quälte mich mit Beten und mit Fasten.
An Hoffnung reich, im Glauben fest,
Mit Tränen, Seufzen, Händeringen
Dacht ich das Ende jener Pest
Vom Herrn des Himmels zu erzwingen.(Vers 1024 – 1028)
Offenbar ist Faust als junger Mann nicht nur ein tief religiöser Mensch gewesen, der von der Wirkmächtigkeit des Gebetes und sogar der Selbstkasteiung zutiefst überzeugt war, sondern auch voller Mitleid für das Leiden anderer und von dem dringenden Wunsch beseelt zu helfen. Er besass also die für die Werterkenntnis und darauf fußende Sinnfindung notwendige Fähigkeit zur Selbsttranszendenz und Selbstdistanzierung. Auch wenn Faust also die besten Vorraussetzungen besaß, dank seiner unverstellten geistigen Person ein sinnhaftes Dasein zu führen, muss es eine tiefgreifende existenzielle Erschütterung gegeben haben, durch welche sich sein geistiger Horizont verdunkelte. Faust selbst liefert in der folgenden Schlüsselszene eine mögliche Erklärung:
O könntest du in meinem Innern lesen,
Wie wenig Vater und Sohn
Solch eines Ruhmes werth gewesen!
Mein Vater war ein dunkler Ehrenmann,
Der über die Natur und ihre heilgen Kreise,
In Redlichkeit, jedoch auf seine Weise,
Mit grillenhafter Mühe sann.
Der, in Gesellschaft von Adepten,
Sich in die schwarze Küche schloß,
Und, nach unendlichen Recepten,
Das Widrige zusammengoß […]
Da ward ein rother Leu, ein kühner Freyer,
Im lauen Bad, der Lilie vermählt
Und beyde dann, mit offnem Flammenfeuer,
Aus einem Brautgemach ins andere gequält.
Erschien darauf, mit bunten Farben,
Die junge Königin im Glas,
Hier war die Arzenei, die Patienten starben,
Und niemand fragte: wer genas?
So haben wir mit höllischen Latwergen (Arznei)
In diesen Tälern, diesen Bergen
Weit schlimmer als die Pest getobt.
Ich habe selbst den Gift an Tausende gegeben:
Sie welkten hin, ich muß erleben,
Daß man die frechen Mörder lobt.(Vers 1031 – 1055)
Tatsächlich leidet Faust an einem Schuldgefühl. Er ist allerdings nicht in der Lage dieses von einer tatsächlichen Schuld, für welche er oder sein Vater Verantwortung zu tragen haben, zu unterscheiden. Offenbar hat Faustens Vater in der Verzweiflung über seine relative Hilflosigkeit einer schrecklichen schicksalhaften Erkrankung wie der Pest gegenüber, zu Arzneimitteln gegriffen, welche bei einigen seiner Patienten zum Tode geführt haben. Die Deutung, der Vater habe sich hierbei teuflischer, schwarzmagischer Praktiken bedient und deshalb den Tod der Menschen wissentlich oder rituell verursacht, wie dieser Textabschnitt manchmal gedeutet wird, erscheint bei näherer Betrachtung als unhaltbar:
Die spezielle Kombination und Verwendung von Begriffen wie „rother Leu“, „Lilie“, „Brautgemach“ und „Königin“ weisen viel eher auf die alchemistische Praxis der „Spagyrik“. Bei dieser handelt es sich jedoch nicht um schwarze Magie, sondern eher um eine moralisch völlig unbedenkliche Form der Arzneimittelzubereitung. Fausts Vater stand also nicht mit dem Teufel im Bunde, sondern war ein rechtschaffener Mann, der nur zu ungewöhnlichen Mitteln gegriffen hat, um seine Patienten zu versorgen.
In seinem Entsetzen über dieses missverständliche Handeln seines Vaters, durch einen, wir können davon ausgehen noch relativ jungen und unerfahren Mann, entstand in ihm das Gefühl der stellvertretenden Schuld und Scham über die angeblich grauenhaften Taten seines Vaters: Faust sah sich als Sohn gewissermaßen gezwungen die Verantwortung für die Taten seines Vaters zu übernehmen. Er verstand dabei jedoch nicht, dass Schuld etwas ist, das ein Mensch nur in vollem Bewusstsein und voller Verantwortung für seine Taten auf sich nehmen kann. Eine stellvertretende Schuld kann es demnach nicht geben, wohl aber unproduktive Schuldgefühle. Schuldgefühle können allerdings eine ähnliche Wirkmacht entfalten und zu den bereits erwähnten noogenen Depressionen führen. In einem gewissen Sinne sind sie sogar noch schlimmer zu bewältigen, denn während ich mich von einer echten Schuld entschuldigen oder tätige Reue zeigen kann, hat das unberechtigt aufgeladene Schuldgefühl kein Gegenüber.
Doch auch Faustens Vater hat im engeren Sinne keine Schuld auf sich geladen: Im Falle einer Pestepidemie war die medizinische Wissenschaft zu jener Zeit völlig hilflos und griff in ihren Heilungsversuchen buchstäblich nach jedem Strohhalm, beispielsweise auch nach Arzneien, die sich als lebensverkürzend erweisen konnten. Auch wenn Faust und möglicherweise sein Vater nach Verabreichung solcher Arzneien Schuldgefühle entwickelt haben mochten, haben sie sich jedoch nicht wirklich schuldig gemacht, denn sie haben sich ehrlich um Heilung bemüht.
Eine solche Deutung wird auch durch die Aussagen des einfachen Volkes gestützt, die ja den Vater, auch wenn er Tod und Leiden verursacht haben mochte, trotzdem als hingebungsvollen Arzt feiern. In teilen scheint auch Faust dieser Umstand bewusst, denn auch er bezeichnet seinen Vater ja durchaus als “ Ehrenmann“, wenn auch als „dunklen“. Da es für den lebensunerfahrenen Jugendlichen jedoch nicht die Möglichkeit eines dichten Gespräches mit ihm gegeben hat, in welchem dieses Trauma hätte erörtert werden, und möglicherweise eine Einstellungsänderung hätte erreicht werden können, entwickelte Faust eine noetisch bedingte Schuldneurose, die zur völligen Ablehnung des Vaters führt, den er nun als“ frechen Mörder“ bezeichnet.
Da Faust sich als Helfer oder Schüler seines Vaters jedoch noch imm mitschuldig wähnt, übernimmt er die Verantwortung für etwas, dass nicht verantwortet werden kann. Sein Schüler Wagner, der Zeuge dieses Berichtes wird, bei dem es sich eigentlich eine Beichte handelt, reagiert zunächst richtig, indem er versucht eine dringend nötige Einstellungsänderung von Faust zu provozieren.
Einstellungsänderung
Wie könnt Ihr Euch darum betrüben!
Tut nicht ein braver Mann genug,
Die Kunst, die man ihm übertrug,
Gewissenhaft und pünktlich auszuüben?
Wenn du als Jüngling deinen Vater ehrst,
So wirst du gern von ihm empfangen;
Wenn du als Mann die Wissenschaft vermehrst,
So kann dein Sohn zu höhrem Ziel gelangen. (Vers 1056 – 1062)
Nichts desto weniger kann eine solche Einstellungsänderung nur bedingt vorgenommen werden, weil Wagner letzten Endes zu einem falschen Schluss kommt, bzw. einen falschen Rat gibt.
Zwar hat er in seiner Analyse der Situation insofern recht, als dass die“ gute Absicht“ bei jeder Tat zunächst einmal zählt, wodurch der unfallbedingte Tod der Patienten Faust und seinem Vater moralisch entlasten. Der Rat jedoch den Vater zu ehren und dessen Weg mutig weiter zu beschreiten ist aber insofern falsch, als dass für Faust die Schuldfrage zumindest emotional noch lange nicht geklärt ist: Faust leidet an einem Verlust des Urvertrauens. Über dieses schreibt die Frankl-Schülerin Elisabeth Lukas treffend: „Da im Irdischen alles verlierbar ist, gibt es nur eine metaphysische Geborgenheit oder gar keine. Der darin geborgene Mensch ist nie allein. Dafür fühlt sich der nicht darin geborgene Mensch auf eine infernalische Weise allein. […] Jede Zurückweisung, die er erfährt, ruft ihm glühenden Schmerzes seine Verlassenheit in Erinnerung. Jeder Misserfolg, den er erntet, drückt ihn noch traumatischer in die Verlassenheit hinein“
Hinzu kommt, dass Faust Wagners gegenwärtigen Ratschlag in einem gewissen Sinne ja bereits in der Vergangenheit angenommen hat, indem er sich in beinahe manischer Weise jahrelange wissenschaftliche theoretische Studien betrieben hat. In diesen abstrakten Bemühungen ist er seinem Vater im Hinblick auf eine intellektuelle Reifung zwar gefolgt, aber hat jedoch dabei seine emotionale und geistige Reifung vernachlässigt. Besser könnte man hier sogar von Verdrängung sprechen, indem er sein (Mit)Schuldgefühl und die hieraus resultierende, man könnte sagen intellektuell-ödipale Ablehnung seines Vaters unter einem Berg unnützen Wissens begraben hat. Auf dieser unbewussten Abarbeitung an seinem Über-Vater entwickelte sich auf der affektiven Ebene im Laufe der Jahre eine depressive Grundstimmung, die wir als Dysthymia bezeichnet.
Angesichts seines Alters und der damit verbundenen Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten konnte sich auf dieser Grundlage eine Sinnkrise, bis hin zu einem akuten Suizidwunsch auswachsen. Viktor Frankl nennt diesen Vorgang eine Vakatwucherung, welche die erwähnte Elisabeth Lukas folgendermaßen beschreibt: „Der Begriff“ Vakatwucherung“ bezeichnet das bereits erläuterte Hineinwuchern seelischer Krankheiten in ein Sinn- und Wertevakuum. […] Es wurde plötzlich ein“ Loch“ ins Leben gerissen, eine Verwirklichungschance aus dem Machbaren entfernt, die persönliche Freiheit um ein spürbares Stück beschnitten. Die Unwiederbringlichkeit des Verlorenen erzeugt jenes Vakuum, in das eine reaktive Depression hinein wuchern kann.“
Goethe zeigt sich jedoch als hellsichtig Kenner der menschlichen Psyche, indem er die Abwehrmechanismen gegen allzu schmerzhafte Einsichten in die eigene Verantwortlichkeit der Betroffenen vorführt: Zwar hat Faust Wagner durchaus zugehört, doch seine Abwehr in der Flucht in beschaulich harmlose Allgemeinplätze bleibt unübersehbar.
O glücklich, wer noch hoffen kann,
Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!
Was man nicht weiß, das eben brauchte man,
Und was man weiß, kann man nicht brauchen.
Doch laß uns dieser Stunde schönes Gut
Durch solchen Trübsinn nicht verkümmern! (Vers 1064 – 1069)
Nichts desto weniger hat der Osterspaziergang, die selbstzerstörerischen Impulse zunächst in den Hintergrund gedrängt. Faust ist sogar in der Lage seine bisher als düster und einengend empfundenes Zuhause positiver wahrzunehmen.
Ach wenn in unsrer engen Zelle
Die Lampe freundlich wieder brennt,
Dann wird’s in unserm Busen helle,
Im Herzen, das sich selber kennt.
Vernunft fängt wieder an zu sprechen,
Und Hoffnung wieder an zu blühn,
Man sehnt sich nach des Lebens Bächen,
Ach! nach des Lebens Quelle hin (Vers 1194 – 1201)
Doch kann sich auf dem Boden einer Noogenen Depression auf die Dauer keine Hoffnung gründen. Faust spürt zwar, dass eine Hinwendung zum Spirituellen bzw. zu einer Auseinandersetzung mit der geistigen Dimension seines Mensch-seins an dieser Stelle ein probates Mittel wäre dem Kreislauf seiner Depression, die sich bereits wieder ankündigt zu begegnen, wenn Goethe ihn sagen läßt:
Aber ach! schon fühl ich, bei dem besten Willen,
Befriedigung nicht mehr aus dem Busen quillen.
Aber warum muß der Strom so bald versiegen,
Und wir wieder im Durste liegen?
Davon hab ich so viel Erfahrung.
Doch dieser Mangel läßt sich ersetzen,
Wir lernen das Überirdische schätzen,
Wir sehnen uns nach Offenbarung, (Vers 1210 – 1217)
Unfähig jedoch eine echte Einstellungsänderung vorzunehmen, greift Faust wieder zu dem ihm bekannten Fluchtmittel, er spaltet seine Emotionalität ab und ist nur noch reiner Intellekt. Indem er sich nun dem Johannesevangelium zuwendet, erhofft er zwar eine religiöse Offenbarung, doch er glaubt diese auf rein intellektuell-philologischem Wege erreichen zu können und beginnt eine Übersetzung der Septuaginta aus dem Griechischen in sein, wie er sagt “ geliebtes Deutsch“.
Die nirgends würd’ger und schöner brennt,
Als in dem neuen Testament.
Mich drängt’s den Grundtext aufzuschlagen,
Mit redlichem Gefühl einmal
Das heilige Original
In mein geliebtes Deutsch zu übertragen,
Er schlägt ein Volumen auf und schickt sich an.
Geschrieben steht:“ Im Anfang war das Wort! (im griechischen Original „logos“)
Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Daß deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, daß ich dabey nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! auf einmal seh ich Rath
Und schreibe getrost: im Anfang war die That! (Verse 1218 – 1238)
Da der Begriff „Logos“ nicht nur mit den Termini „Wort“, „Begriff“, „Tat“, sondern eben auch mit „Sinn“ (sic!), bzw. einer Einheit aus diesen übersetzt werden müsste, Faust es jedoch noch immer an der Erkenntnis des Sinnes im doppelten Sinne mangelt, versagt auch dieser Versuch sich die Welt bzw. die geistige Dimension seines Lebens durch Sprache und Intellekt untertan zu machen. Anstatt sich der Frage nach dem Sinn zu öffnen und hierin nicht nur eine Antwort auf die Frage nach der existenziellen Schuld zu bekommen, die er glaubt mittelbar auf sich geladen zu haben, sondern auch spirituelle Erlösung zu finden, weicht er der schmerzhaften Wahrheit erneut aus und verliert sich in hohlen Phrasen. Und selbstverständlich handelt es sich auch um keinen Zufall, dass sich just an dieser Stelle der teuflische Schalk Mephisto offenbart und einen erlösenden Paktschluss mit der Hölle anbietet.
Der Pakt mit dem bedeutungslosen Leben
Der Pakt mit dem Teufel ist allerdings nicht in einem moralischen Sinne als Entscheidung zum Bösen zu verstehen, sondern in ihrer existenzialistischen Deutung als der zunächst dauerhaftere Versuch durch die Verlockungen eines banalen Lebens, den geistigen Horizont Faustens noch weiter zu verstellen.
Oberflächlich bietet Mephisto Faust eine beinahe verhaltenstherapeutisch anmutende Lösung seines noogen-affektiven Leidens an, indem er ihn nicht nur zurück in die Welt und unter Menschen führt, sondern ihm jeden nur möglichen weltlichen Genuss verspricht. Doch anders als der Osterspaziergang, der ja tatsächlich in einem gewissen Rahmen eine therapeutische Wirkung zeigte, indem der Umgang mit seinen Mitmenschen Faust zu einer ersten Auseinandersetzung mit seinen Schuldgefühlen motivierte, bringt der nihilistische Mephisto ihn dazu vom Leben nur noch simple Sensationen zu erwarten, die ihn von seiner Auseinandersetzung mit seiner eigentlichen Problematik ablenken sollen.
So fasst Faust seine Erwartungen von ihrem Pakt Mephisto so zusammen:
Doch hast du Speise die nicht sättigt, hast
Du rothes Gold, das ohne Rast,
Quecksilber gleich, dir in der Hand zerrinnt,
Ein Spiel, bey dem man nie gewinnt,
Ein Mädchen, das an meiner Brust
Mit Aeugeln schon dem Nachbar sich verbindet,
Der Ehre schöne Götterlust,
Die, wie ein Meteor, verschwindet.
Zeig mir die Frucht die fault, eh’ man sie bricht,
Und Bäume die sich täglich neu begrünen! (Verse 1678 – 1687)
Deutlich erkennbar an dieser Stelle bildet sich zu Faustens noogener Depression ein zweiter manischer Pol aus. Das unproduktive Grübeln wird ergänzt durch einen verzweifelten und oberflächlichen Lebenshunger, der, ähnlich wie im Falle drogeninduzierter Rauschzustände, auf eine selbstzerstörerische Explosion hinsteuert. Diese manische Rastlosigkeit ist jedoch nicht im eigentlichen Sinne Ausdruck eines Lebenshungers, sondern muss als hohler Aktionismus verstanden werden, der vor allem von einer Auseinandersetzung mit seiner geistigen Person ablenken soll.
Und Schlag auf Schlag!
Werd’ ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zu Grunde gehn!
Dann mag die Todtenglocke schallen,
Dann bist du deines Dienstes frey,
Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
Es sey die Zeit für mich vorbey! (Verse 1698 – 1706)
Um sich jedoch für ein solches oberflächliches pubertäres und hierin noch weiter selbstzerstörerisches Leben zu rüsten, sorgt Mephisto folgerichtig zunächst für eine Verjüngung von Faustens Körper in den eines Zwanzigjährigen.
Goethe erweist sich gerade hier als erschreckend weitsichtiger und moderner Autor, der hohlen Jugendwahn und den irrigen Glauben an ein unbegrenztes Wachstum in jeder Hinsicht als Flucht vor der Auseinandersetzung des todesängstlichen Menschen mit Schuld und Schuldgefühlen demaskiert: Anstelle den menschlichen Körper und seine Begrenztheiten als schicksalhafte und herausfordernde Fragen des Lebens an den einzelnen Menschen zu begreifen, zeigte Goethe bereits vor zweihundert Jahren auf, dass eine Moderne, die die existenziellen Probleme des Einzelnen nicht ernst nimmt und ihm keinen Rahmen anbietet, in welchem er diese thematisieren und klären kann, nicht nur zu individuellem Leid und sozialer wie wirtschaftlicher Zerstörung führt. Sie fördert auch ein entspiritualisiertes und nihilistisches Menschen- und Weltbild, deren Auswirkungen nicht zuletzt das Volk, in dessen Sprache Goethe seine Werk warnend verfasste, am eigenen Leib hat erfahren müssen, als Opfer, wie als Täter – Goethes Faust und seine Noogene Depression – traurig, klassisch und modern, so lautet mein Fazit.