Die Moral
Entwicklung der Moral nach Kohlberg
Kohlberg geht in seiner Dissertation aus dem Jahre 1958 davon aus, dass man die moralische Entwicklung eines Menschen in drei große Ebenen unterteilen kann. Jede dieser Phasen läßt sich noch einmal in zwei Abschnitte unterteilen, so dass sich insgesamt sechs Entwicklungsstufen ergeben. Auf den ersten beiden Ebenen befinden sich die Menschen in einem bestimmten Lebensalter, für die dritte Ebene liegen die Dinge etwas komplizierter.
Schauen wir uns die 3 Phasen und die einzelnen Schritte der moralischen Entwicklung etwas genauer an.
A. Die Präkonventionelle Ebene
Die ersten der drei Phasen nennt Kohlberg die „Präkonventionelle Ebene“.
Im Kleinkindesalter kennen Menschen die moralischen Regeln dieser Welt noch nicht. Sie lernen erst mit der Zeit, welche Gesetze und welche Gesetzmäßigkeiten und Regeln in der Gesellschaft vorhanden sind. Für Kinder sind Mutter und Vater zunächst die wichtigsten Bezugspersonen. Sie machen das Kind durch Belohnen und Bestrafen darauf aufmerksam, welches Verhalten richtig und falsch ist. Ob eine Handlung gut oder böse ist, hängt also von ihren physischen und psychischen Konsequenzen ab und nicht von der sozialen Bedeutung bzw. Bewertung. Die Vermeidung von Strafe und die nicht hinterfragte Unterordnung unter die elterliche Macht gelten als Werte an sich.
Auf welcher moralischen Entwicklungsstufe sich das Kind im Laufe seiner Erziehung befindet kann man indirekt anhand seinen Äußerungen oder aus Argumentationsmustern herauslesen, die es in einem Gespräch über ein falsches Verhalten verwendet.
Stufe 1: An Strafe und Gehorsam orientiert
Befindet sich das Kind auf der ersten Stufe, so sind von ihm die folgenden Äußerungen zu erwarten:
1. Ich möchte das tun, also darf ich es auch machen.
2. Wenn ich nicht erwischt werde, darf ich es auch tun.
3. Ich sollte das nicht tun, denn sonst wird meine Mutter/mein Vater traurig und dann fühle ich mich nicht wohl.
4. Das ist richtig und gut so, denn meine Eltern, mein großer Bruder, mein Freund, meine nette Lehrerin) finden das auch.
5. Man sollte ihn hart bestrafen, denn er hat etwas Verbotenes getan.
Im Zentrum des kindlichen Denkens stehen demnach die elterlichen Erfahrungen und eine klare Aufteilung der Welt in gut und böse.
Fasst man die typischen Äußerungen und Denkmuster zusammen, so kann man die erste Stufe der moralischen Entwicklung auch die „Liebes-Kind-Stufe“ nennen.
Stufe 2: An instrumentellen Zwecken und Austausch orientiert
Auf der zweiten Stufe entwickeln die Kinder zwar einen grundsätzlichen Sinn für Gerechtigkeit, aber immer Mittelpunkt steht immer der eigenen Vorteil. Im Unterschied zu der ersten Stufe treten Kinder mit ihrer Umwelt jetzt viel stärker in Beziehung, die Bezugspersonen sind nicht mehr nur die Eltern, sondern auch Erzieher oder auch andere Kinder.
Eine richtige Handlung besteht auf dieser Stufe darin, dass sie die eigenen Bedürfnisse, manchmal auch die Bedürfnisse anderer, befriedigt werden. Zwischenmenschliche Beziehungen beruhen auf dem Prinzip des Austausches: So Du mir, so ich Dir. Grundzüge von Fairness, Gegenseitigkeit, Sinn für gerechte Verteilung sind bei den Kindern nun zwar vorhanden, sie werden jedoch ganz pragmatisch auf die einzelnen Handlungen bezogen und sind noch keine Prinzipien, die in jeder Situation Gültigkeit besitzen. Typische Äußerungen in dieser Phase lauten dann z.B.:
1. Wenn es mir nützt, kann ich es auch machen.
2. Ich muss das nur machen, wenn er auch das Gleiche für mich machen würde.
3. Bekomme ich genauso viel wie sie?
4. Wenn ich das nicht mache, dann macht es ein anderer, und dann hat der den Nutzen.
5. Ich muss meinen Eltern helfen, weil sie auch viel für mich tun.
Fasst man die Äußerungen zusammen, so kann man die zweite Stufe der moralischen Entwicklung auch die „Verhandlungs-Stufe“ nennen.
B. Die Konventionelle Ebene
Auf der zweiten, der konventionellen Ebene befinden sich die meisten Kinder ab etwa ihrem 9. Lebensjahr, Jugendliche und etwa 75 Prozent der Erwachsenen.
Menschen auf dieser Ebene richten ihr Verhalten ausschließlich nach den Regeln ihrer unmittelbaren sozialen Umwelt aus. Man ist nett. Man hält die Regeln, z.B. die der Nachbarschaft, ein. Auf der präkonventionellen Ebene des Kindes werden moralische Regeln von dem unmittelbaren Umfeld gestaltet und als solche vollständig akzeptiert. Auf der konventionellen Ebene nun werden gesellschaftliche Regeln übernommen und akzeptiert, z.B. das Verbot der Nacktheit in der Öffentlichkeit. Die gefürchtete Bestrafung für moralisches Fehlverhalten besteht nun vor allem in der gesellschaftlichen Ächtung.
Stufe 3: An interpersoneller Erwartung, Beziehungen und Autoritäten orientiert
Viele Jugendliche und Erwachsene, die sich auf der 3. Ebene befinden, nehmen häufig gar nicht wahr, dass sie die gesellschaftliche Regeln verinnerlicht haben und ihr Verhalten nach diesen ausrichten, ohne diese jemals zu hinterfragen. Ein solches Verhalten wäre für viele auch nicht regelkonform. Man tut die Dinge so, wie man sie eben tut. Die Folgen sind Konformität, blinder Gehorsam und stereotype Vorstellungen davon, wie Dinge zu gestalten und zu bewerten sind. Für Jugendliche kann ein zu langes Verweilen auf der dritten Stufe äußerst negative Konsequenzen haben: Da die Clique oder Peer-Group nun die Verhaltensweisen bestimmt, nach denen man zu leben und zu handeln hat, werden schädliche Regeln, z.B. der Konsum von Drogen oder der übermäßige Gebrauch von Computerspielen nicht hinterfragt. Eltern von pubertierenden Jugendlichen können hiervon ein Lied singen: Das Kind ist äußerst kritisch und renitent den elterlichen Anweisungen, aber das Verhalten der Freunde wird blind übernommen und nicht hinterfragt.
Um die moralische Ebene eines Menschen zu bestimmen werden in der Forschung ab der dritten Stufe häufig Fragebögen eingesetzt, in denen meist ein moralisches Dilemma vorgestellt wird. Zum Beispiel wird eine Geschichte erzählt an deren Ende die Frage steht: Soll ich um das Leben eines Menschen zu retten ein Verbrechen begehen, oder nicht?
Typische Argumentationsmuster orientieren sich auf der Stufe 3 der moralischen Entwicklung dann stets folgenden Überlegungen:
1. Was denken die anderen darüber?
2. Wenn ich das mache, dient es meiner Clique.
3. Wenn jemand etwas gut gemeint hat, aber etwas falsche getan hat, sollte man ihn nicht bestrafen.
4. Wenn ich das tue, werde ich besser angesehen.
5. Wenn du das machst, fühlt sich der andere unwohl, deshalb wäre es falsch, so zu handeln
Fasst man die Äußerungen zusammen, so kann man diese dritte Stufe der moralischen Entwicklung auch die „Peer-Group-Stufe“ nennen.
Stufe 4: An der Erhaltung des sozialen Systems orientiert
Ab der vierten Stufe, die sich die „Peer-Group-Stufe“ anschließt, sind Jugendliche und Erwachsene in der Lage die Interessen von anderen Menschen wirklich anzuerkennen und ihre Positionen gedanklich zu durchdringen. Diese grundsätzliche Einsicht bedeutet jedoch noch nicht das abweichendes Verhalten toleriert wird. Die moralischen Vorstellungen orientieren sich nun an Recht und Ordnung, der staatlichen oder gesellschaftlichen Autorität, der man sich freiwillig unterstellt und deren Regeln man befolgt.
Richtiges Verhalten bedeutet dann z.B. seine Pflicht zu tun, ohne sie wirklich zu hinterfragen.
Typische Argumentationsmuster orientieren sich auf der Stufe 4 dann an etwa folgenden Überlegungen:
1. Wenn das jeder täte, würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren.
2. Wenn etwas illegal ist, dann darf man es auch nicht machen.
3. Wenn der Gesetzgeber etwas entschieden hat, dann ist das auch richtig so.
4. Der Einzelne hat ein Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, die sein Tun bestimmen muss.
5. Man darf nicht nur an sich oder die Interessen seiner Gruppe denken.
Fasst man die Äußerungen zusammen, so kann man die vierte Stufe der moralischen Entwicklung auch die „Law and Order“-Stufe nennen.
Die Stufe 4 wird frühestens mit sechzehn Jahren erreicht. Nur 25 Prozent der Erwachsenen erreichen in ihrem Leben eine höhere Stufe.
C. Die Postkonventionelle Ebene
Auf dieser Ebene werden die gesellschaftliche Regeln, die in der vierten Stufe noch blind befolgt werden, infrage gestellt. Eine Regel oder ein Gesetz werden erst dann als moralisch richtig akzeptiert, wenn sie kritisch hinterfragt worden sind.
Stufe 5: Die legalistische oder Sozialvertragsorientierung.
Die fünfte Stufe der moralischen Entwicklung setzt philosophiegeschichtlich betrachtet die moralische Schule des Utilitarismus um. Der Utilitarismus bemisst eine moralische Handlung nach dem Wert für die Gemeinschaft. Das höchste Glück ist das Glück der höchsten Anzahl von Menschen, lautet ein Wahlspruch. In der Konsequenz bedeutet dies, dass sich ein Utilitarist in einem moralischen Dilemma auch gegen seine persönliches Glück entscheiden muss, wenn dadurch das Glück vieler Menschen gefördert wird. Ein aktuelle Beispiel ist der so genannte Lock-Down während der Coronakrise. Ein Mensch auf der vierten konventionellen Stufe akzeptiert ein Ausgehverbot, weil es der Staat so anordnet und dieser Mensch die staatliche Autorität akzeptiert. Ein Mensch auf der fünften, postkonventionellen Stufe, kommt nach kritischer Betrachtung dieser Regel zu dem Schluss, dass er durch sein Zuhause-bleiben die Gesundheit von vielen Menschen schützt, auch wenn es seinen persönlichen beruflichen oder privaten Interessen widerspricht, oder sogar Nachteile für sich selbst in Kauf nehmen muss. Gleichzeitig ist er jedoch in der Lage auch andere Meinungen nachvollziehen zu können. Für solche Menschen steht das Allgemeinwohl an erster Stelle, Gesetze werden akzeptiert, aber sie sind nicht in Stein gemeißelt und können jederzeit geändert werden und um das Allgemeinwohl noch zu vergrößern.
Stufe 6: Orientierung an allgemeingültigen ethischen Prinzipien
Die sechste und letzte Stufe der moralischen Entwicklung setzt philosophiegeschichtlich betrachtet die moralische Schule Immanuel Kants um. Sprichwörtlich geworden ist der Kategorische Imperativ Kants: Handele stets so, dass die Grundsätze deiner moralischen Handlungen, immer auch als ein allgemeines Gesetz gelten könnten. Man stiehlt nicht deswegen, weil es ein Gesetz verbietet, jedoch auch nicht, weil hierdurch vielen Menschen geschadet wird, sondern, weil es in niemandes Interesse sein kann bestohlen zu werden. Menschen, die ihre moralischen Handlungen an Kants Morallehre ausrichten handeln nicht, weil eine Handlung für sie persönliche Vor- oder Nachteile hätte, sondern weil eine Analyse der Situation kein anderes Handeln zuläßt. Sie sind damit ihre eigenen Anwälte, Staatsanwälte und Richter. Sie handeln nach universalen Prinzipien der Toleranz, der Freiheit und der Gerechtigkeit.
Die Entwicklung dieser letzten Stufe setzt die Fähigkeit zu einer noch größeren Selbstdistanzierung und zur Urteilsfähigkeit voraus, als noch auf der Stufe 5. Die postkonventionelle Ebene, vor allem die Stufe 6, wird nur noch von wenigen Menschen erreicht.
Typische Argumentationsmuster orientieren sich auf der Stufe 5 und 6 dann an etwa folgenden Überlegungen und Leitfragen:
1. Schützt diese Regelung auch die Rechte dieses Einzelnen?
2. Was „normal“ ist, ist damit noch lange nicht richtig.
3. Der Zweck heiligt nicht die Mittel; individuelle Ansprüche und Interessen müssen mit dem Interesse aller (dem größten Wohl aller) vereinbart werden – und umgekehrt.
4. Könnte mein Handeln verallgemeinert werden? Wäre es vertretbar, wenn in diesem Fall alle so handeln würden?
5. Meine Überzeugungen, die sowohl religiös wie auch auf Vernunft begründet sind, gebieten mir hier, so zu handeln, auch wenn die gesetzlichen Regelungen dem entgegenstehen.
6. Es ist nicht akzeptabel, wenn Menschen zu Mitteln zum Zweck missbraucht werden.
Lawrence Kohlbergs Überlegungen zur moralischen Entwicklung haben einen tiefen Einruck in der Sozialpsychologie hinterlassen und werden bis heute diskutiert und kritisiert.
Sie können aber auch im Rahmen der therapeutischen Praxis umgesetzt werden.
So können mit Hilfe von vorgefertigten Dilemmata, die Ihr Euch im Internet herunterladen könnt, die moralische Reife Eurer Klienten erfragt werden. Besonders im Rahmen von Paar- und Familienberatungen können hierdurch wertvolle Hinweise darauf gewonnen werden, wie die einzelnen Partner ihre Beziehung ausgestalten, ob als als gleichwertige Partner oder in extremen Abhängigkeitsverhältnissen. Auch zur Einschätzung einer vorliegenden Persönlichkeitsstörung können moralische Überzeugungen wichtige Hinweise liefern.